Die Natur als Heiligtum – Tibet

Nur wenige Regionen auf der Welt ziehen Reisende und Abenteurer so magisch an wie Tibet. Das Hochplateau wird auf allen Seiten von gewaltigen Gebirgsketten eingerahmt. Im Süden die mächtigen Achttausender des Mt. Everest, Lhotse, Makalu, Cho Oyu oder Shisha Pangma, im Westen die nicht minder unüberwindbaren Gebirgszüge des Karakorum, im Norden das unzugängliche Kunlun-Gebirge, während sich der Osten Tibets als eine endlose Aufeinanderfolge von Gebirgsmassiven mit tiefen, von Flüssen hineingeschnittenen Schluchten präsentiert.

Die geheimnisvolle, unendliche, von gewaltigen Naturkräften erschaffene Landschaft Tibets mit ihren dramatischen Gebirgsformationen, weiten Hochtälern und den vielen tiefblauen Seen inspirierten jahrtausendelang die Kultur, Riten und Dämonen seiner Bewohner und selbst der Einmarsch der Chinesen 1959, die Verwandlung des Schneelands in einen Polizeistaat, die Verwüstungen in der Kulturrevolution und der Versuch einer rigiden Kontrolle der buddhistischen Klöster im modernen China, hat die Tibeter nicht daran gehindert, weiterhin zu ihren unzähligen heiligen Stätten zu pilgern und sogar immer neue zu erschaffen. Allen Unkenrufen zum Trotz, ist das religiöse Leben im ganzen Land präsent, die Spiritualität seiner Bewohner stets spürbar.

Das buddhistische Herz Tibets schlägt im Zentrum der Altstadt von Lhasa, der Hauptstadt Tibets. Hier steht der Jokhang, der einer Legende nach eine Dämonin, die einst die Verbreitung des Buddhismus in Tibet verhindert haben soll, fixiert. Doch nach alter Vorstellung war Tibet von unzähligen weiteren Dämonen beherrscht, die um ihre Macht fürchteten. Erst mit der Missionierung durch Padmasambhava im 8. Jh. konnten alle diese unheilvollen Geister besiegt werden. Ob Padmasambhava tatsächlich eine historische Gestalt war, ist umstritten, im kulturellen Gedächtnis der Tibeter, die ihn Guru Rinpoche nennen, ist er dennoch zum Kulturheros geworden, dem es zu verdanken ist, dass Tibet mit seinen menschlichen und dämonischen Bewohnern ein buddhistisches Land werden konnte. Er zähmte die lokalen Gottheiten und die Dämonen des Bön, der alten, schamanistischen Religion der Tibeter, verleibte sie einem immer größer werdenden Götter-Pantheon ein und verwandelte sie in Beschützer des Buddhismus.

Auf dem heiligen Umwandlungsweg um den Jokhang, dem Barkor, kann man die lebendige Spiritualität Tibets am eindrucksvollsten erleben. Besonders fromme Buddhisten messen die Kora, wie die Ritualwege um eine heilige Stätte genannt werden, mit ihrer Körperlänge aus. Unter ihnen befinden sich Pilger, die sogar den Weg aus ihren fernen Heimatdörfern bis nach Lhasa auf diese Weise zurückgelegt haben und dafür nicht selten viele Monate, gar Jahre unterwegs waren.

Das zweite großartige Zentrum des Buddhismus in Tibet ist der Potala-Palast. Auf dem Abbild des Weltenbergs Sumeru, dem Zentrum des buddhistischen Kosmos erschuf der »Große Fünfte« Dalai Lama, der Begründer der lamaistischen Theokratie, nicht nur ein großartiges Denkmal des mystischen tantrischen Buddhismus, sondern ein Bauwerk, das für die religiöse und politische Macht der Gelbmützen-Schule stand. Von hier wurde über drei Jahrhunderte das Schicksal Tibets gelenkt. Auch wenn er heute nur noch als Museum dient, hat der Palast nichts von seiner ungeheuren spirituellen Kraft verloren.

Mit der Theokratie der Gelbmützen begann der Bau der großen Klosterstädte und Universitäten Ganden, Sera, Drepung und Tashilhunpo, in denen viele Tausend Mönche lebten, lernten und praktizierten. Sie sind noch heute herausragende Monumente des Lamaismus und dienen immer noch der Ausbildung von Mönchen und einer Mönchselite. Doch neben den Gelbmützen gab es noch einige weitere Schulrichtungen. Sie alle haben ihre großen Mutterklöster, die immer an besonders geschichtsträchtigen und wirkmächtigen Orten stehen und perfekt den tibetischen Begriff des gnas entsprechen. Tsurphu, der Sitz der Karma-Kagyü-Schule in einem malerischen Seitental und das von einem Berghang auf eine Ebene blickende Mindroling, ein Zentrum der Nyingma-Schule gehören ebenso dazu wie Tirthapuri im Westen Tibets, wo Padmasambhava die ersten Geister und Dämonen unterwarf, bevor er mit der Missionierung Tibets beginnen konnte.

Inmitten einer kargen Landschaft aus hell in der Sonne leuchtenden Sanddünen und vor einer Kulisse mächtiger Berge erhebt sich Samye, das älteste Kloster Tibets am Ufer des Yarlung Tsangpo. Erbaut als ein dreidimensionales, den buddhistischen Kosmos darstellendes Mandala, fiel hier im berühmten Konzil von Samye zwischen 792 und 794 die Entscheidung zu Gunsten der Einführung des tantrischen Buddhismus als Staatsreligion. Vertreter des chinesischen und tantrischen Buddhismus mussten hier ihre Lehrauslegungen in öffentlichen philosophischen Disputen darlegen und die chinesischen Buddhisten unterlagen.

Eingebettet in grandiose Landschaften, bilden auch Tibets Seen ganz besondere Kraftorte und heilige Stätten, in denen Schutzgottheiten residieren. Entsprechend gelten sie als besonders wirkmächtig. Der Ausflug zum Nam Tso, einem der heiligsten Seen Tibets, gehört zu den eindrucksvollsten Erlebnissen einer Tibetreise. Nicht minder dramatisch zeigt sich der Yamdrok Yumtso. Die Göttin Dorje Gegkyi Tso soll sich einst in diesen See verwandelt haben, um das Leben in Tibet zu ermöglichen. Trocknet der See jemals aus, so heißt es, sei Tibet nicht mehr bewohnbar. Der Mapham Yutso im Schatten des gewaltigen 7694 Meter hohen Schneeriesen Gurla Mandata dagegen gilt als Symbol der Lehre Buddhas. Buddhistische Gläubige trinken daher etwas Seewasser, das von den Sünden aus hundert Wiedergeburten reinigen soll. Für die Hindus ist dieser See aus dem Geist Brahmas geboren und damit einer der heiligsten ihrer Pilgerorte, wo sie ihre Pilgerschaft mit einem rituellen Bad beginnen.  Text Oliver Fülling