Mandala der Natur – der Mount Kailash

Auf  dem windgepeitschen, kargen Hochland im Westen Tibets erhebt sich ein Heiligtum ganz besonderer Art. Es wurde nicht von Menschenhand erbaut, kein Künstler hat es in jahrelanger Arbeit geformt, Es wird nicht von ehrfurchtgebietenden Mauern umschlossen und auch nicht von goldenen Dächern behütet. Der Kailash  ist ein Heiligtum, das auch ohne priesterliche Weihe, ohne Altäre und ohne Gaben spirituelle Würde ausstrahlt – Ein Naturschauspiel, das Gläubige in seinen Bann zieht und für religiöse Dinge empfängliche Menschen zumindest Respekt und Ehrfurcht einflößt.

Die grenzenlose Landschaft bildet eine natürliche Kulisse für den Lamaismus, seine Riten und Dämonen. Alles ist majestätisch und geheimnis- voll, unendlich und bewegend. Wer hier an- kommt, wird gewissermaßen selbst zum Pilger, und ihren Höhepunkt findet diese Wallfahrt am heiligsten aller Berge.

Für die tibetischen Buddhisten stellt der Kailash ein Mandala mit dem göttlichen Bereich von Cakrasamvara, einer tantrischen Verkörperung des Buddha, als seinem Zentrum dar. Cakrasamvara ist eine »göttliche« Manifestation der Weisheit und des Mitgefühls aller Erleuchteten. Sein Name besagt, dass er derjenige ist, der das Rad (cakra) der Wiedergeburt (samvara) anhält. Buddhisten, die den Berg umrunden, sind davon überzeugt, in Cakrasamvaras Wirkungsbereich einzutauchen und damit besonders viel gutes Karma ansammeln und negatives Karma bereinigen zu können.

Den Hindus dagegen gilt der Kailash als Aufenthaltsort von Shiva, und auf dem heiligen Umwandlungsweg sehen sie in bestimmten Felsformationen auch den Affengott Hanuman und Nandi, den Reitochsen von Shiva. Für die Bönpo ist der Kailash heilig, weil er die himmlischen und irdischen Kräfte miteinander vereint. In der Heilsgeschichte ist dies der Ort, an dem ihr Religionsstifter, Shenrab Mibo, in seinem Emanationskörper herabstieg.

Zu guter Letzt ist der Kailash auch ein heiliger Berg des Jainismus. Nach der Überlieferung des Jainismus erlangte der Erste in der Linie ihrer Glaubensstifter, Tirthankara mit Namen, an diesem heiligen Berg, den sie Astapada nennen, die Befreiung.

Text: Oliver Fülling